Der Sachverhalt in Kürze: Dem Angeklagten, der 2014 aus Syrien nach Deutschland geflohen war, wurde der strafrechtliche Vorwurf der Beihilfe zu einem Mord und zu einem Kriegsverbrechen gegen eine Person und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland – in Syrien – gemacht. Der Angeklagte wurde am 17. Oktober 2019, 20. Februar 2020 und 6. März 2020 als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den beiden letzten Vernehmungen wurde er – ebenso wie vor der ersten – jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers »beanspruchen« könne. Im Folgenden äußerte er sich an beiden Tagen unter Einbeziehung eines Dolmetschers, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war. Einer der an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten wurde in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört. Im Anschluss an dessen Aussage widersprach ein Verteidiger deren Verwertung, soweit der Zeuge Angaben über Inhalte der Vernehmungen vom 20. Februar und 6. März 2020 gemacht hatte. Das Oberlandesgericht stützte in den Urteilsgründen seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in der Vernehmung am 6. März 2020 auf die Bekundungen des Zeugen.
Die strafprozessuale Rechtsfrage ist, ob die polizeilichen Vernehmungen des damals Beschuldigten rechtsfehlerhaft waren, weil diese ohne eine Strafverteidigerin bzw. ohne einen Strafverteidiger erfolgten.
Der BGH sagt „nein“:
Der BGH weiter:
Alles klar?
Notwendige Verteidigung? Pflichtverteidiger? Individuelle Schutzbedürftigkeit? §§ 140, 141 StPO? Das klingt rechtlich kompliziert. Und schaut man dann noch auf den strafrechtlichen Vorwurf von Mord, Kriegsverbrechen ua. mit einem Tatort in Syrien, werden Sachverhalt und rechtliche Problematik nicht einfacher.
Rechtliche Würdigung
Jede Person, der ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht wird, hat im gesamten Strafverfahren von Anfang bis zum Schluss das Recht auf den Beistand eines Strafverteidigers oder einer Strafverteidigerin. Das gehört zu unserem Rechtsstaat. Das zeigt § 137 StPO. Die deutsche Strafprozessordnung unterscheidet zwischen Wahlverteidigung und dem Fall der notwendigen Verteidigung. Es gibt strafrechtliche Vorwürfe und Situationen wie Haftsachen, in denen die Strafprozessordnung nach dem bereits erwähnten § 140 StPO die zwingende Mitwirkung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin aus rechtsstaatlicher Fairness fordert. Und das eventuell auch gegen den Willen der beschuldigten Person.
Sehr pauschal lässt sich sagen, dass bei Strafsachen, die in die Zuständigkeit des Einzelrichters am Amtsgerichts fallen, regelmäßig die Mitwirkung der Strafverteidigung nicht notwendig ist. In Haftsachen und bei schweren Strafvorwürfen, die in die Zuständigkeit des amtsgerichtlichen Schöffengerichts oder Landgerichts fallen, und in weiteren strafrechtlich komplizierten Situationen ist nach § 140 StPO eine solche notwendig. Und das gilt bereits im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren vor Anklageerhebung. Und das gilt dann besonders in der Situation der Vernehmung des oder der Beschuldigten durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder durch einen Richter. Bei einer Vernehmung als Beschuldigter oder Beschuldigte werden Sie über ihre Rechte belehrt.
§ 136 Abs. 1 StPO:
Das klingt kompliziert und ist es auch.
Blicken wir noch einmal auf die Entscheidung des BGH: Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO vor. Wenn der Beschuldigte bereits einen Wahlverteidiger hat, sind die Erfordernisse der notwendigen Verteidigung erfüllt. Wenn der Beschuldigte in der Situation der polizeilichen Vernehmung noch keinen Strafverteidiger und noch keine Strafverteidigerin beauftragt hat, gelten im Fall der notwendigen Verteidigung die §§ 140, ff. StPO. Im Prinzip verlangt das Gesetz jetzt einen Antrag des oder der Beschuldigten zur Bestellung einer Pflichtverteidigung.
Nur in den Ausnahmefällen nach § 141 Abs. 2 StPO bestellt der Staat eine solche von Amts wegen. Ein solcher Ausnahmefall ist gesetzlich der Umstand, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann. Eine solche Unfähigkeit bemisst der BGH sehr restriktiv nach der individuellen Schutzbedürftigkeit anhand der geistigen Fähigkeiten. Das ist sehr formalistisch. Und wer von Ihnen bis zu dieser Stelle gelesen hat, wird feststellen, dass das Recht, das Strafrecht und das Strafprozessrecht sprachlich und inhaltlich keine einfache Sache ist. Der BGH lässt mit dieser Entscheidung die Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung ziemlich allein. Er verlangt von ihnen, die Bedeutung der erforderlichen Antragstellung eigenverantwortlich zu erkennen. Das ist sehr viel verlangt in der Situation einer polizeilichen Vernehmung angesichts eines schweren Tatvorwurfs. Diese Auslegung ist nicht fair und nicht zwingend.
Gehen Sie nie ohne anwaltlichen Beistand zu einer Vernehmung. Und: Wenn die Polizei Sie zu einer solchen Vernehmung als Beschuldigter „vorlädt“, müssen Sie nicht hingehen. Wirklich nicht! Als Beschuldigter oder Beschuldigte müssen Sie einer Ladung zur Vernehmung im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft folgen = § 163a Abs. 3 StPO. Das gilt nicht für polizeiliche Vorladungen zur Beschuldigtenvernehmung = § 163a Abs. 4 StPO. Gehen Sie nicht ohne Anwalt oder Anwältin dorthin.
Und wenn Sie doch einmal ohne anwaltlichen Beistand in einer Vernehmungssituation sind und nach § 136 StPO belehrt werden, dann bestehen Sie auf das Recht auf die Unterstützung durch einen Strafverteidiger oder eine Strafverteidigerin. Und stellen Sie den Antrag nach § 141 Abs. 1 StPO auf Pflichtverteidigerbestellung im Fall der notwendigen Verteidigung. Vertrauen Sie nicht auf die Hilfe durch die Polizei! Diese Rechte gewährt Ihnen der Rechtsstaat.
Für diesen Beistand sind wir alle für Sie da!